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Wind um die Ecke schaufeln


Ein Arbeitsbeschaffungsprogramm aus den 90er Jahren



1989 entdeckte Prof. Erwin Spotz-Humbug in einem bahnbrechenden Versuch, daß die durchschnittliche Windgeschwindigkeit im Bundesgebiet um 3,6 % höher liegen könnte, wenn der Wind an den Hausecken nicht verwirbelt würde. Angesichts der inzwischen reichlich vorhandenen Windkraftwerke finanzierte die Vereinigung bundesdeutscher EnergieErzeuger (VbEE) einen Feldversuch im Raum Holzminden, der bis 1991 Spotz-Humbugs Ergebnis im großen und ganzen bestätigte.


Inzwischen hatten Wissenschaftler der Fernuniversität Helgoland für das damit aufgeworfene ökonomische Problem eine praktikable Lösung gefunden. So konnte 1992 der VbEE zugleich mit den Ergebnissen des "Feldversuch zum signifikanten Nachweis von Windverwirbelungserscheinungen an Häuserecken" auch einen Vorschlag zur Abhilfe veröffentlichen: Zur Erhöhung der durchschnittlichen Windgeschwindigkeit - und damit zur besseren Ausnutzung der bundesrepublikanischen Windkraftwerke - sollte der Wind um die Ecken geschaufelt werden. Weil es dafür einstweilen noch keine Maschinen gab, sollte die Arbeit zunächst von drei Millionen Arbeitslosen ausgeführt werden.


Die Bundesbeschäftigungsanstalt, die Bundesspezialversicherung und die Bundesvereinigung der Arbeitgeber-  und Arbeitnehmerverbände finanzierten das Programm für zunächst sechs Jahre, machten aber die Weiterförderung von einem positiven Ergebnis der spätestens 1996 durchzuführenden Nachuntersuchung abhängig.


Drei Millionen machten sich also 1993 an die Arbeit und schaufelten Wind um die Ecken. Den ersten Schaufelstich hatte sich übrigens der Bundesbeschäftigungsminister nicht nehmen lassen. Zunächst reichten die Schaufeln und Schneeschaufeln der örtlichen Straßenbauämter und Bauhöfe nicht aus. Manche Windschaufler mußten zu zweit oder gar zu dritt und zu viert eine Schaufel bedienen. Aber bald hatten die Schaufelhersteller den Versorgungsengpaß beseitigt. Auch andere Zulieferindustrien (für Windjacken, Windhosen, Windbeutel u. ä.) meldeten nach kurzer Zeit steigende Umsätze. Und weil der Wind überall wehte und an Häuserecken verwirbelt wurde, kam das Beschäftigungsprogramm endlich auch mal den strukturschwachen und den Zonenrand-Gebieten zugute.


Ende 1995 war das bundesrepublikanische Bruttosozialprodukt dank der Impulse, die von der Zukunftsbranche ,Windbewegung' ausgingen, um 3,6 % gewachsen. Die ersten Maschinen, die Wind um die Ecke schaufeln konnten, kamen auf den Markt. Sie und die Patente zum Nachbau wurden auch ins befreundete Ausland verkauft, die streng geheime Produktion von hunderten von Werkschützern bewacht. Die IG Bau-Steine-Erden-Wind gehörte inzwischen zu den größten Gewerkschaften im Land. Die Bundeswehr bildete  - wegen mangelnder Ausbildungsplätze in den freien Wirtschaft  - Zeitsoldaten zu Diplomwindschauflern aus.


Als damit am Erfolg des Beschäftigungsprogramms nicht mehr zu zweifeln war, der Bund finanzierte es inzwischen ganz allein aus den gestiegenen Steuereinnahmen, wurden in der linken publizistischen Ecke einige Stimmen laut, die die Notwendigkeit, Wind um die Ecke schaufeln zu müssen, schlicht bestritten. Die Windbewegungsbranche und die IG Bau-Steine-Erden-Wind gründeten daraufhin eine Forschungsgemeinschaft, das Erwin-Spotz-Humbug-Institut (nach seinem inzwischen verblichenen Mentor). Dieses gab nach zwei Monaten eine eigene Zeitschrift, einen halbeigenen Informationsdienst sowie eine Film- und Video-Reihe (besonders für Schulen) heraus.


Trotzdem wollten die Zweifler nicht verstummen, erhielten sogar Anhänger in der linken Mitte. Jetzt wurden härtere Geschütze aufgefahren. Das Wind-um-die-Ecke-Schaufeln wurde zum Verfassungsgebot hochstilisiert und die Einstellung in den öffentlichen Dienst vom Bekenntnis zum freiheitlichen Wind-um-die-Ecke-Schaufeln abhängig gemacht. Zu Durchsetzung dieses Gebots wurden dreihundert Verfassungsschützer, elf Hundertschaften Bereitschaftspolizei und eine nicht genannte Zahl von V-Männern und -Frauen eingestellt, was die Beschäftigungszahlen, die Umsätze, das Bruttosozialprodukt und alle möglichen anderen Statistiken weiter hochschnellen ließ.


Für die breite Öffentlichkeit in Ost und West war es völlig unbegreiflich, warum die Chaoten auf dem linken Spektrum gegen das Wind-um-die-Ecke-Schaufeln sein konnten. Alle Zahlen sprachen gegen sie.


A. U. Weiher


Veröffentlicht in päd.extra - Magazin für Erziehung, Wissenschaft und Politik, 5.12.1984, S. 18 f.




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