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Klaus-Peter Thiele


Horrorvideos im Zusammenhang von Gesellschaft und Gewalt



In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen erschrickt unsere Gesellschaft über ihren Nachwuchs: Sei es angesichts zerstörten Konzertsaal-Mobiliars in den 50er Jahren, gewalttätig demonstrierender Schüler, Jungarbeiter und Studenten in den 60ern und beginnenden 70ern, aggressiver Fußballfans, Drogenabhängiger, Sektenhöriger und Terroristen in den ausgehenden 70ern. Das jüngste Erschrecken gilt den Heranwachsenden, die sich oft ganze Nächte hindurch Horrorvideos anschauen, in denen nach meist jahrzehntelang bekannten Schemata ausgeflippte Normalbürger, Untote und kosmische Heimsuchungen (oft lustvollen) Schrecken im Alltag verbreiten und in denen schließlich durch individuelle und/oder kollektive Gewalt(-anstrengungen) das Böse gebannt und der Alltag als dann lustvoll empfundene Alternative - zumindest vorläufig - wiederhergestellt wird.


Das (Angst-)Lustmoment und das "gute Ende" der meisten Horrorvideos wird in der Kritik häufig übersehen (trotz mancher Unterschiede in der Darbietungs- und Rezeptionsweise erinnert dies an die uralte Debatte über die jugendgefährdenden Wirkungen von Romanen und Märchen). Ebenso die Tatsache, daß sich die mehr oder minder jugendlichen Zuschauer die Videos selten allein ansehen, sondern meist zu mehreren, in nach Alter und Geschlecht gemischten Gruppen und ohne Vertreter der Elterngeneration. Das Interesse der aufgeregten Erwachsenen richtet sich auf den ekelhaften, gewaltverherrlichenden Inhalt der Videos, wodurch einfache Lösungen des Problems möglich erscheinen: Herstellungs- oder Vertriebsverbote für solche Videos, ersatzweise - wegen des Zensurverbots unseres Grundgesetzes - Vertriebsbeschränkungen, die den Kindern und Jugendlichen den Zugang erschweren.


Aus dem Blickfeld bleibt dabei, daß dieses Erwachsenenhandeln seinerseits auf eine gewaltförmige Durchsetzung der Verbote und Beschränkungen hinausläuft, wenn sich die Heranwachsenden ihre Vorlieben nicht nehmen lassen wollen. Denn die Aufregung ist nur gerechtfertigt, wenn

a) hinter den Horrorvideos ernsthafte Bedürfnisse der Heranwachsenden stehen (aber diese lassen sich nicht durch schlichte Verbote beseitigen) und

b) die Erwachsenen den Jugendlichen ein gewaltfreies Selbstmodell nahebringen wollen (aber das läßt sich nicht gewaltförmig durchsetzen).


Solch ein Vorgehen hat sich deshalb bisher als letztlich wirkungslos oder sogar problemverschärfend herausgestellt, weil so gesellschaftliche Abweichung kriminalisiert, zusätzlicher Ausbeutung zugeführt und aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgegrenzt wird.


Ich werde im folgenden eine mögliche andere Betrachtungsweise vorstellen, die das Horrorvideo-Problem im Zusammenhang von Gesellschaft und Gewalt ortet und daraus Handlungsvorschläge entwickelt.


Auf einen ersten Blick könnte man Gesellschaft und Gewalt als sich ausschließende Gegensätze ansehen. Die eine ist das Sinnbild des Zusammenlebens, der geregelten Zusammenarbeit der Menschen nach mehr oder weniger bewußter Übereinkunft. Die andere das unsoziale, verletzende, zerstörende oder anderweitig Schädigende, außerhalb eines gesellschaftlichen Konsenses. Diese Sicht ist das Resultat einer historischen Entwicklung, die Gesellschaften mit dem Ziel hervorgebracht hat, die Gewalt aus vielen Bereichen, besonders dem zwischenmenschlichen, zu verbannen. Die Gewaltausübung wird besonderen Instanzen übertragen, um - das ist die bei unseren Erörterungen nicht zu vergessende idealistische Voraussetzung und zugleich das Ziel - unser Dasein friedlich und freundlich zu gestalten, und zwar vor unserem Tod. Zusammenfassend können wir das auch als "glückliches Leben" bezeichnen.


Norbert Elias hat diese Entwicklung in seiner Untersuchung "Über den Prozeß der Zivilisation" (1978) beschrieben und analysiert. Sie ist, bei allen geschichtlichen und regionalen Besonderheiten, gekennzeichnet durch

a) die Besonderung und Ausgrenzung von peinlich gewordenen Tätigkeiten und Affekten aus den alltäglichen Zusammenhängen durch Arbeitsteilung und Intimisierung,

b) deren Verfestigung und Rationalisierung in Form von Handlungsmustern, technischen Apparaten und Institutionen und

c) die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Handlungserwartungen durch die Errichtung eines Selbstzwangs, des Über-Ichs.


Nach der Idee unserer demokratischen Gesellschaftsverfassung besitzt allein der Staat das Monopol auf Gewaltausübung, sowohl nach innen wie nach außen. Es wird repräsentiert durch Parlament, Justiz, Polizei, Grenzschutz, Bundeswehr und andere ausführende Staatsorgane. Ihnen allein ist es vorbehalten, auf der Grundlage von rechtlichen Bestimmungen Gewalt gegen Ausländer und Mitglieder unserer Gesellschaft anzuwenden. So gibt es heute säuberlich getrennt legal gewalttätige und illegal gewalttätige Gruppen in unserer Gesellschaft, wodurch der Anschein entsteht, der Rest sei gewaltfrei. Allenfalls die Vorgänge um sog. V-Leute, die in Bürgerinitiativen oder rechtsradikale Vereinigungen eingeschleust wurden und sich dort offenbar als die eigentlichen Scharfmacher betätigten, lassen diese scharfe juristische und politologische Trennlinie etwas ausfransen. Den Horror, von Spitzeln ausgespäht zu werden, verdanken die Heranwachsenden uns.



Und im zwischenstaatlichen Bereich: Hier ist potentiell jeder Staat und ganz offensichtlich bereit, wie weiland unsere Vorväter auf zwischenmenschlicher Ebene, gewalttätig zu werden. Der Beginn des Feldzugs gegen Polen, die Invasionen in der CSSR, in Afghanistan, auf den Falklands oder Grenada zeigen offen, daß man sich den Anlaß dafür auch selbst konstruieren und moralische Erwägungen hintanstellen kann. Denn noch gibt es - außer den im Konfliktfall ziemlich hilflosen internationalen Gerichtshöfen, der UNO und kritischen nationalen und internationalen Öffentlichkeiten - keine übergeordnete Macht, die einen stärkeren Staat hindern kann, einem schwächeren seinen Willen aufzuherrschen. Meist reicht sogar die Darstellung der eigenen Stärke und der gegnerischen Schwäche aus, sodaß eine direkte kriegerische Auseinandersetzung nicht erforderlich ist: Gewalt wird dann nicht manifest, sondern die bloße Drohung führt zur Unterwerfung des Angegriffenen. Flugzeugträger und Manöver an den Grenzen sind an die Stelle der Kanonenboote getreten. Die Supermächte haben ihre Overkillkapazitäten bis zur möglichen Auslöschung der Erde als einem Ort menschlicher Existenz entwickelt und bauen sie doch immer weiter aus. Richter (1980 b, S. 108) zitiert eine Untersuchung, nach der für jeden einzelnen Menschen eine Sprengkraft von 15 Tonnen Dynamit bereitstünde. Selbst die Apokalypse ist machbar geworden. Durch uns und nicht die Heranwachsenden.


Auch im Straßenverkehr, einem scheinbar gewaltfreien zwischenmenschlichen Bereich, zeitigt bereits die Drohung mit zu erwartender Gewalt erstaunliche Wirkungen. Als das Automobil noch am Anfang seiner Karriere stand, wurde gefordert, daß angesichts der großen Bedrohung der übrigen Straßenbenutzer durch die kinetische Energie dieser Gefährte vor jedem Auto ein Mann mit einer roten Flagge laufen müßte, um davor zu warnen. Heute hat sich dieses Verhältnis umgekehrt: Man erwartet von den Fußgängern und - meist jugendlichen - Radfahrern, daß sie sich auffällig kleiden, um nicht versehentlich von einem der mit Erwachsenen bemannten Geschosse umgebracht zu werden. Man erwartet ebenso selbstverständlich, daß - meist jugendliche - Radfahrer zweimal eine vielbefahrene Straße überqueren, sich dabei nach in beiden Richtungen kreuzenden Autos orientieren, um es - erwachsenen - Autofahrern, die beim Abbiegen einen Fahrradweg mit viel geringerem Risiko kreuzen, zu ersparen, sich nach rechts und nach links zu vergewissern. Der Hinweis, daß diese Regelung wegen Zusammenstößen von sich begegnenden Radfahrern notwendig sei, müßte in der Konsequenz zu einem allgemeinen Einbahnstraßenverkehr führen, weil auch sich entgegenkommende Autos ab und zu miteinander kollidieren. Gegen solche Argumente würden sich aber die Autofahrer wohl wehren: "Freie Fahrt für freie Bürger!" Sie hängen offenbar an ihrem Nervenkitzel und wollen die Heranwachsenden rechtzeitig daran gewöhnen.


An dieser Weltsicht aus der Autofahrerperspektive hat die Pädagogik mit ihrem Sonderzweig Verkehrserziehung keinen geringen Anteil. Denn bis zum Ende der 60er Jahre zielte sie allein auf die Anpassung der Kinder an die vorgegebenen Verkehrsbedingungen. Es waren aber eben diese Bedingungen mit ihrer Bevorzugung des Autoverkehrs, die die (Kinder-)Unfallraten fortschrieben. Die Pädagogik selber mit ihren Besonderungen, Institutionen und Apparaturen verdankt sich - wie die übrigen Wissenschaften - der Entwicklung hin zu arbeitsteiligen, "befriedeten" Gesellschaften. Sie ist zunächst Ausdruck des sozialen Tatbestands, daß die Bildung der Menschen nicht mehr dem "natürlichen" Zusammenleben überlassen bleibt, sondern besonderer Anstrengungen wert erachtet und durch erzieherische Handlungen im eigens entwickelten Bildungssystem angestrebt wird. Dabei haben sich Trennungen entwickelt, die die Familie mangels anderer sinnvoller Betätigungen zu einer "überspezialisierten Einrichtung für Gefühlsbindungen" (Wilson 1971, S. 27) haben werden lassen und das Bildungssystem zu einem Bereich, der zwar gemeinsame produktive Tätigkeiten aber nur wenige legitimierte Affekte zuläßt, weil es auf das entsprechend organisierte Beschäftigungssystem hin zu sozialisieren hat.


Beide Vereinseitigungen zeitigen ambivalente Resultate: Die auf die Kernfamilie und in zunehmendem Maße auf die Familie mit nur einem Elternteil und/oder nur einem Kind reduzierte Gemeinschaft führt einerseits zur Einschränkung der kindlichen Erfahrungsmöglichkeiten in seiner unmittelbaren Umgebung. Andererseits kommt es aber auch zur Freisetzung aus einschränkender kultureller Tradition (vgl. Ziehe 1981) mit ihrerseits ambivalenten Folgen (vgl. Postman 1983) und - besonders in Familien von Alleinerziehenden - zu einer Überflutung der Eltern-Kind-Beziehungen mit gegenseitigen Bedürfnissen, die die Beteiligten überfordern und die Ausbildung problematischer Persönlichkeitsstrukturen fördern, die wir aus psychoanalytisch orientierten Veröffentlichungen kennen (vgl. Richter 1969 und 1979, Wangh 1983, Petersen 1983). Z.B. ein Wechsel in der Partnerbeziehung kann zum einen ein notwendiger emanzipatorischer Akt für die Erwachsenen und für das Kind eine Hilfe sein, zum anderen aber für das Kind eine gewaltförmige, weil gegen seinen ausdrücklichen Willen gerichtete Trennung von einem geliebten Menschen bedeuten. Hier sind den Beteiligten leider nicht immer die Fallstricke ihrer Progressivität bewußt. Die Grundschullehrerin erfährt bei dieser Gelegenheit von ihren Zweitklässlern, daß Herrmännchen so chaotisch sei, weil er schon wieder einen neuen Papa habe.


Im Bereich des Bildungs- und des Beschäftigungssystems führt die Vernachlässigung affektiver Momente zu einem universalistischen Beziehungstypus, der es ermöglicht und notwendig macht, Bindungen zwischen Zensuren, Gehalt, einem Arbeitsplatz, einer Automarke, einem Deodorant, Menschen, Volk und Vaterland frei flottieren zu lassen (vgl. Duhm 1973, Ottomeyer 1977). Das auf diesem Beziehungstypus aufbauende - und ihn erzeugende - Wirtschaftssystem hat zweifellos eine ungeheure Beweglichkeit und Produktivität entfaltet, die es u.a. ermöglichte, einen wachsenden Teil der Beschäftigten von der Produktion der materiellen Lebensgrundlagen in der Land-, Forst- und Fischwirtschaft, im Handwerk und der Industrie freizustellen und sie z.B. als Fachleute für die Erziehung der Heranwachsenden auszubilden und zu beschäftigen. In den Industrienationen ist tiefe materielle Not fast ausgerottet: Unser Vieh wird in der Regel besser ernährt als viele Menschen in der Dritten Welt. Die öffentlichen Armenküchen in den USA und die aktuelle Debatte um eine neue Armut in der Bundesrepublik weisen allerdings darauf hin, daß dieses Wirtschaftssystem nach wie vor seine Krisen nicht nur auf dem Rücken der Dritten Welt (vgl. Krieg 1981), sondern auch auf Kosten der "eigenen" Bevölkerung löst: Nach Angaben des Deutschen Kinderhilfswerks lebten 1984 in der Bundesrepublik fast eine halbe Million Kinder von Sozialhilfe (vgl. Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 31.12.1984, S. 16). Viele Neulinge auf dem Arbeitsmarkt bekommen gar nicht erst die Gelegenheit, zum statistisch relevanten Arbeitslosen zu werden und sich ins "soziale Netz" hineinzuverdienen. Sie werden gleich zum Betteldasein bei den Verwandten oder der Sozialhilfe gezwungen (vgl. Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 19.6.1984, S. 5).


Unser Wirtschaftssystem hat immer auch große Mengen der für die herrschende Arbeitsteilung überflüssigen bzw. bedrohlichen natürlichen und menschlichen Produktivität unentfaltet gelassen, ihre Entwicklung behindert, entwickelte Potentiale durch Überflußproduktion und Rüstung vergeudet, durch Überforderung verschlissen, durch Terror und Krieg zerstört (vgl. Krieg 1981, Negt/Kluge 1981). Denn z.B. die Kriegsmaschinerien üben auch mitten im sog. Frieden Gewalt aus: Man mag es besonders nach den Diskussionen der vergangenen Monate nicht mehr erwähnen, aber liegt darin keine Gewalt, wenn auf der einen Seite um jede freiwerdende Lehrerstelle oder nicht mehr ganz gefüllte Schule gefeilscht werden muß, und auf der anderen Seite ein beliebiges militärisches Gerät im gleichen Wert nach 6-10 Jahren selbstverständlich zur Verschrottung ansteht und durch ein teureres ersetzt wird? In diesem menschlichen Horrorkreis wird gesellschaftliche Produktivität in Miltär und Polizei statt in die Veränderung der Lebensverhältnisse gesteckt, aus denen Dummheit und die Bereitschaft zu Vernichtungsaktionen erwachsen, gegen die man sich dann wieder durch Militär und Polizei schützen muß (vgl. Adorno 1966, Adorno/Becker 1966 und 1968).


Insoweit die Pädagogik die Arbeitskräfte heranzubilden hilft, ist sie auch daran beteiligt (vgl. Rutschky 1977). In diesem Zusammenhang sei nochmals auf die aktuelle Entwicklung in den USA hingewiesen. Voller Stolz wird argumentiert, der neue Aufschwung der US-Wirtschaft habe viele neue Arbeitsplätze geschaffen. Dabei wird meist übersehen, daß a) zur Finanzierung der Rüstungssteigerungen riesige staatliche Kredite aufgenommen wurden, die die Zinsen und den Dollar derart hochtrieben, daß viele US-Unternehmen schließen mußten und Arbeitsplätze vernichtet wurden. Und b) wird nicht beachtet, in welchen Bereichen neue Arbeitsplätze entstanden sind. Der Großteil liegt nämlich im Service-Sektor, z.B. in der Niedriglohn-Domäne Fast-Food-Bereich (vgl. Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 26.11.1984, S. 3 und S. 5; Altvater 1984, S. 21). Wer einmal Gelegenheit hatte, bei McDonalds oder einer verwandten Institution zu Gast zu sein, wird die Kulturleistung würdigen können, die erforderlich war, menschliche Bedürfnisse auf dieses Niveau zu bringen (vgl. Lutz 1985).


Diese Trennungen von einem glücklicheren Leben beruhen auf Gewalt, die aber in der Regel schon deshalb nicht zu erkennen ist, weil sie uns im Prozeß unseres eigenen Heranwachsens zur Selbstverständlichkeit, zum Selbstzwang, zur "zweiten Natur" geworden ist. Und umgekehrt können wir Fortschritte kaum abschätzen, weil die allmählichen Veränderungen des Alltags sich normalerweise unterhalb der Schwelle unserer Aufmerksamkeit verfestigen. Erst der Blick auf alte Dokumente (Bücher und zunehmend Filme) läßt uns gewahrwerden: Es ist noch nicht lange her, daß es selbstverständlich war, seine Frau und seine Kinder zu schlagen. Die Jahresbilanz des Deutschen Kinderhilfswerks wies für 1984 u.a. fast 30.000 mißhandelte Kinder aus (vgl. Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 31.12.1984, S. 16). Dieser Tatbestand wäre früher schon wegen des mangelnden Unrechtsbewußtseins nicht erhoben worden. So wie heute - zum Glück - wohl niemand Buch über das Wäschewaschen der Nachbarn führt. Und doch kann es eines Tages sein, daß wir betroffen feststellen müssen, wie eben diese alltägliche Verrichtung dazu beigetragen hat, das Leben in unseren Gewässern und unser eigenes zu schädigen.


Unsere zunehmend komplexere gesellschaftliche Arbeitsteilung baut immer stärker darauf auf, daß jeder zur richtigen Zeit am richtigen Ort "das Richtige" tut. Mit ihrer Verfestigung in mehr oder weniger deutlichen Handlungserwartungen und Einrichtungen wird der Einzelne zugleich wichtig und austauschbar. Jeder KZ-Wächter, der Menschen "einer Sonderbehandlung zuführte", jeder Waffenhändler, der (Panzer-)Waffen in Spannungsgebiete liefert, jeder Müllkutscher, der seine Industriegifte heimlich in die Landschaft kippt, jeder Pädagoge, der seine Zöglinge auf den gebückten Gang vorbereitet, glaubt sich mit der moralischen Bankrotterklärung herausreden zu können: Wenn ich es nicht getan hätte, hätte es ein anderer getan (vgl. Adorno 1966, Weizenbaum 1978). Und "das Richtige" muß und kann sich nicht immer als mehr Glück versprechend legitimieren. Vor den dafür notwendigen Diskurs haben unsere Götter erst einmal das jeden Diskurs erstickende Gerede von den Sachzwängen gesetzt (vgl. Habermas 1971, S. 104-144). Hätten die Atomkraftgegner es dabei bewenden lassen, könnte unsere Atomindustrie wahrscheinlich heute nicht mit "den sichersten Atomkraftwerken der Welt" hausieren gehen. (Diesen Horror verdanken wir den Heranwachsenden. Vieles hat eben doch mehrere Seiten.)


Gerade wegen der wachsenden Komplexität und Risikohaftigkeit unserer gesellschaftlichen Arbeitszusammenhänge ist es zunehmend wichtig, daß sich "das Richtige" ständig und gesamtgesellschaftlich, d.h. unter den Bedingungen eines endlichen, irdischen Ökosystems tendenziell in einem individuellen und weltweiten Diskurs als mehr Glück für alle Menschen versprechend zu legitimieren hat. Mit den sog. Neuen Technologien könnten wir - wieder einmal - diesem Diskurs einen Schritt näherkommen. Doch die Weichen scheinen schon in andere Richtungen gestellt zu sein: mehr einfältige Vielfalt, anonyme Überwachung und Steuerung.


Das gesellschaftlich produzierte Bedürfnis (nicht nur) junger Menschen, sich Horrorvideos anzuschauen, kann so gesehen ein Reflex auf die Tatsache sein, daß unsere Gesellschaft im Prozeß der Zivilisation ihr wachsendes Gewaltpotential aus dem öffentlichen Zusammenhang in die Unsichtbarkeit "funktionaler" Sachzwänge und "individualer" Selbstzwänge gedrängt hat und zwar spürbar, aber ohne eine entsprechende Bildung nicht hinreichend mitteilbar ist (vgl. Lorenzer 1973). Damit ist das Gewaltpotential nicht mehr ohne weiteres einer gesellschaftlich legitimierten, nämlich verbalen, Art der Auseinandersetzung darüber zugänglich, was daran moralisch vertretbar, was (noch) notwendig und was (schon) überflüssig ist. Es entsteht ein diffuses Aggressionspotential, das seinen unsichtbaren Gegner sucht.


In den Horrorvideos findet dieses Potential scheinhafte Adressaten, um ebenso scheinhaft abgeführt zu werden. Denn führt die reale, bestandene Auseinandersetzung mit einer Bedrohung zu einer Bewältigung des Gewaltpotentials und zu einer Stärkung des Selbstbewußtseins (vgl. Goffman 1964), so ist dies nicht im gleichen Maße durch das weitgehend nur vorgestellte Abenteuer des Horrorvideos möglich (in weiten Grenzen wären hier auch Zuschauererlebnisse bei ganz gewöhnlichen Filmen, Familienserien, Bundesligaspielen, Autorennen oder bei Podiumsdiskussionen zu nennen): Die latente Gewalt des Alltags bekommt nur einen Ausdruck, und diesem begegnet letztlich doch nur ein anderer und nicht der Zuschauer selbst. Findet ein derart aufgeblasenes Selbstbewußtsein im Alltag keine - zumal keine soziale - Bestätigung, kann es einer nach wie vor bedrohlichen Realität nicht lange standhalten. Es wird wieder auf sein "Normalmaß" schrumpfen und günstigenfalls auf die Suche nach der nächsten Aufblähung gehen. Langfristig wird es so abstumpfen, sich vielleicht mit den "Gegebenheiten" abfinden und aufhören, etwas Anderes - nämlich ein seiner selbst bewußter Produzent seiner Verhältnisse - werden zu wollen (besonders Revolutionen widersprechen allerdings dieser pessimistischen Einschätzung menschlicher Fähigkeiten). So wird (über-)lebensnotwendiger Protest (vgl. Kluge 1975, bes. S. 215-222) gegen die Zumutungen unserer Zivilisation nicht der gesellschaftlichen Kommunikation zugeführt, sondern gegen schlichte Phantasmen gelenkt, durch Stellvertreter scheinhaft befriedigt, stillgelegt und Gegenstand von sich selbst auf Dauer stellender Geschäftemacherei (vgl. Negt/Kluge 1972, bes. S. 282-310).


Deshalb bin ich gegen Horrorvideos und die Verhältnisse, die sie hervorbringen. Diese in einem langfristig angelegten Prozeß der "Entbarbarisierung" (Adorno/Becker 1968) der Gesellschaft zu verändern, halte ich allerdings für ausssichtsreicher (vgl. auch Negt 1984) als paradoxe Kurzschlußreaktionen. Wie könnten nun einzelne Momente dieses Prozesses aussehen? Ohne systematischen Anspruch (und ohne den Glauben, daß sich meine Vorschläge schlicht argumentativ durchsetzen könnten):


1. Wir sollten den Symptomzusammenhang "Horrorvideos" nicht vorschnell in "handliche" Teilbereiche aufspalten, die dann vorhandenen Ressorts (z.B. Jugendpolitik, Familienpolitik, Medienpolitik) zugeordnet, gewichtet und danach politisch-bürokratisch abgearbeitet werden könnten. Dies würde allzuleicht die Sicht auf den ganzen Umfang der Aufgaben versperren. Wir befinden uns offenbar in einer entscheidenden Phase eines gesamtgesellschaftlich und weltweit möglichen und notwendigen (Werte-)Wandels mit den solch einen umfassenden Prozeß nun einmal begleitenden tiefgreifenden Verunsicherungen.


2. Wenn dies durchzuhalten Politikern, Eltern und Lehrern nicht zumutbar erscheint, müßten wir darüber nachdenken, unter welchen Bedingungen, in welchen auch institutionalisierten Verhältnissen Hilfe (gemeint ist damit die Unterstützung von Selbstveränderung) bereitgestellt werden könnte, diese Verunsicherungen produktiv, d.h. als Zeichen für Potentiale zu erfahren, die einer Gestaltung fähig sind.


3. Letzteres mag seltsam anmuten: Wie könnten wir im Horror etwas Produktives sehen? Er ist z.B. insoweit produktiv, als er uns nötigt, uns in die Faszination derer einzufühlen, die sich von ihm anziehen lassen. Und dabei entdecken wir gerade auch in unserer Ablehnung unsere eigenen Anteile, die uns für das Phänomen empfänglich machen (vgl. Devereux 1976, Karle 1980).


4. Hieraus ergibt sich, daß die Helfer (Lehrer, Sozialarbeiter, Medienpädagogen, Erwachsenenpädagogen, Kulturarbeiter, usw.) psychoanalytisch orientierte Methoden beherrschen (vgl. Richter 1980 a) und daß die Einrichtungen, in denen Hilfe bereitgehalten wird, ein erfahrungs- und reflexionsorientiertes Milieu aufweisen sollten (vgl. ebd. und Adorno/Becker 1966).


5. Das heißt nicht, daß dort alles auf Selbsterfahrung und Gruppendynamik hinauslaufen sollte. Eher das Gegenteil: Die Betroffenen - ich gebrauche einmal diesen wenig schönen Ausdruck, der hier in erster Linie Eltern, Kinder, Jugendliche und Pädagogen meint - sollten dort ihren eigenen wichtigen Tätigkeiten nachgehen, also z.B. lehren und lernen, arbeiten, miteinander reden, tanzen usw. und darüberhinaus in einer entsprechenden Atmosphäre ausgebildete Ansprechpartner für ihre Probleme finden (das sind sicher nicht immer unmittelbar psychische).


6. Dies könnte z.B. in unseren Schulen, in kommunalen Kulturzentren oder in einer Schule neuen Typs stattfinden, die beides in sich vereint. Sie wäre eine durch emotionale Momente erweiterte Bildungseinrichtung, die stärker als herkömmliche Schulen von projektorientierten Lernprozessen und praktischer Arbeit ausginge und konkurrenzförmige Auslese hintanstellen würde, was fairen Wettstreit nicht ausschließt (vgl. Adorno/Becker 1968, S. 126 ff.). Dazu wären vor allem die Klassenstärken zu verringern. Wegen der dann höheren Belastungen der Pädagogen wären deren wöchentliche Stundendeputate zu senken zugunsten anrechenbarer Vor- und Nachbereitungssitzungen, Weiterbildung und Elternarbeit. Architektonisch und innenarchitektonisch wäre diese Schule "wohnlicher" (vgl. Hesse/ Kahle/Laube 1984). Sie wäre zur Gemeinde, zum Stadtteil hin geöffnet: In der unterrichtsfreien Zeit wäre sie ein kommunales Kulturzentrum (Bibliothek, kommunales Kino, Medienzentrum, Laientheater u.ä.), sie würde örtliche Betriebe und kommunale Einrichtungen in den Unterricht einbeziehen. Beruflich qualifizierte ("schulfremde") Mitbürger und gerade auch Eltern würden im Unterricht mitarbeiten.


7. Andererseits müßten die Familientätigkeiten mit bildenden Momenten angereichert werden. Die Wohnungen und Wohnumgebungen sollten vielfältiger nutzbar und sozialer angelegt werden (vgl. Bahrdt 1974, bes. S. 121-146). Neue Wohnmodelle, wie z.B. das Zusammenleben mehrerer Generationen in gemeinsam verwalteten Wohnanlagen, sollten unterstützt werden. Alte Mitbürger sollten freiwillig ihre Lebensarbeitszeit über die Pensionsgrenze hinaus verlängern können. Die durchschnittliche tägliche und wöchentliche Erwerbsarbeitszeit müßte dagegen verkürzt werden zugunsten einer anrechenbaren Kulturarbeitszeit (vgl. Negt 1984, bes. S. 140-226), z.B. zur Mitarbeit in der (Schul-)Erziehung der Kinder, sonstiger Bildungsarbeit (Stichworte: lebenslanges Lernen und Lehren), in Neigungsgruppen, Vereinen, Bürgerinitiativen, der Wohnbereichsgestaltung oder Kommunalpolitik.


8. Ohne daß es hier hinreichend ausgeführt werden könnte, ist auch eine entsprechende "Veröffentlichung" der Einrichtungen des Beschäftigungssystems zu fordern. Wem das unvorstellbar erscheint, der mag daran denken, daß vor gar nicht langer Zeit die meisten Arbeiten in der Landwirtschaft und im Handwerk relativ öffentlich geleistet wurden. Der Typ des abgeschotteten Industrieunternehmens bzw. der sog. öffentlichen Behörde ist eine vergleichsweise junge geschichtliche Entwicklung.


9. Auch in diesem Sinne müßte der Privatisierung bereits öffentlichrechtlich verfaßter Bereiche wie z.B. der Rundfunk- und Fernsehanstalten, der Post, der Lufthansa, der Bundesbahn, des Bildungswesens, des Gesundheitswesens oder gar, wie in den USA, des Gefängniswesens Widerstand entgegengesetzt werden. Denn privatisiert werden sollen doch nur die Gewinne, während die Verluste oder die Umwelt- und die Innenweltschäden weiter sozialisiert werden. Stattdessen sollten weitere gesellschaftliche Schlüsselbereiche schrittweise aus dem System der tendenziell gewaltförmigen, kapitalistischen Konkurrenz in ein immer noch wettbewerbsfähiges, öffentlich-rechtliches "fair play" (vgl. Adorno/Becker 1968, S. 127) überführt werden. Ethische und ökologische Probleme unserer Produktion könnten dann eher in den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs einbezogen werden, statt auf gewinn- bzw. dividendenorientierten Vorstands- und Aktionärsversammlungen unter den Teppich gekehrt zu werden.


10. Wer das alles für nicht machbar oder nur für nicht finanzierbar hält, sollte sich ins Bewußtsein rufen, wieviel gesellschaftliche Produktivität heute a) in den weltweiten Rüstungswahn gesteckt wird und b) durch die herrschenden Verhältnisse brachgelegt oder gar nicht erst entwickelt wird (siehe oben). Wenn wir Erwachsenen nicht uns selbst verändern, werden uns wohl weitere (Umwelt-)Katastrophen dazu zwingen. Das Waldsterben oder der Videohorror werden gegen den dann zu erwartenden Schrecken wahrscheinlich lächerlich wirken.



Literatur


Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Frankfurt/Main 1972 (16.-30.Tausend)

ders.: Erziehung nach Auschwitz. Vortrag im Hessischen Rundfunk; gesendet am 18.4.1966. In: ders. 1972

ders./Becker, Hellmut: Erziehung - wozu? Gespräch im Hessischen Rundfunk; gesendet am 26.9.1966. In: Adorno 1972

dies.: Erziehung zur Entbarbarisierung. Gespräch im Hessischen Rundfunk; gesendet am 14.4.1968. In: Adorno 1972

Altvater, Elmar: Der Dollar auf der Reise in den Kollaps? In: links Nr.17 Dezember 1984

Bahrdt, Hans Paul: Umwelterfahrung. Soziologische Betrachtungen über den Beitrag des Subjekts zur Konstitution von Umwelt. München 1974

Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1976

Duhm, Dieter: Warenstruktur und zerstörte Zwischenmenschlichkeit. Köln 1973

Elias , Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände. Frankfurt/Main 1978 (6.)

Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt/Main 1971

Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als >Ideologie<.Frankfurt/Main 19715

Hesse, Silvia/Kahle, Irmela/Laube, Mechtild: Schulräume sind (T)räume, die Anregungen geben, sind (T)räume, die veränderbar sind, sind (T)räume die dir gehören. In: Beispiele. Heft Nr.2, August 1984

Karle, Albert: "Ich war ein großer Nationalsozialist". Nationalsozialismus eines Dorfbewohners. In: Beck, Johannes et al. (Hrsg.): Terror und Hoffnung in Deutschland 1933-1945. Leben im Faschismus. Reinbek bei Hamburg 1980

Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt/Main 1975

Krieg, Peter: Der Mensch stirbt nicht am Brot allein. Lesebuch zum Film "Septemberweizen". Wuppertal 1981 (2.)

Lorenzer, Alfred: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt/Main 1973

Lutz, Wolf-Rüdiger: Speisen à la Dallas, Chinatown oder Ökotopia? In: PSYCHOLOGIE HEUTE, Mai 1985 (vgl. auch die übrigen Beiträge zum Heftthema 'Essen')

Negt, Oskar: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt/Main, New York 1984

ders./Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt/Main 1972

dies.: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt/Main 1981

Ottomeyer, Klaus: Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus. Reinbek bei Hamburg 1977

Petersen, Gisela: Kinder-Schäden. Über Ursache und Therapie psychischer Defekte. In: Kursbuch 72, Juni 1983

Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/Main 1983

Richter, Horst Eberhard: Eltern, Kind und Neurose. Psychoanalyse der kindlichen Rolle. Reinbek bei Hamburg 1969

ders.: Was sollen unsere Kinder lernen? Das Dilemma der Pädagogik. Überarbeitete Fassung eines Referats auf der Tagung "Forum Zukunft" der SPD, Mai 1979. In: ders. 1981

ders.: Flüchten oder Standhalten. Reinbek bei Hamburg 1980 (1980 a)

ders.: Wir brauchen eine starke Friedensbewegung. Vortrag in der Universität Gießen, Mai 1980 (1980 b). In: ders. 1981

ders.: Sich der Krise stellen. Reden, Aufsätze, Interviews. Reinbek bei Hamburg 1981

Rutschky, Katharina (Hrsg.): Schwarze Pädagogik. Frankfurt/Main 1977

Wangh, Martin: Narzißmus in unserer Zeit. In: Psyche 1/1983

Wilson, Bryan R.: Die Rolle des Lehrers - eine soziologische Analyse. In: Betzen, Klaus/ Nipkow, Karl E. (Hrsg.): Der Lehrer in Schule und Gesellschaft. München 1971

Ziehe, Thomas: Die Wirklichkeit rückt uns auf den Leib. Kulturelle Veränderungen und ihre Entsprechungen im Subjekt. In: päd.extra 7/8/1981



Veröffentlicht in: Hartmut Reichardt (Hrsg.): Loccumer Protokolle 23/1985, "Videoterror" als gesellschaftliches und individuelles Phänomen. Bestandsaufnahme, Einschätzung und mögliche Gegenstrategien. Dokumentation einer Expertentagung der Evangelischen Akademie Loccum am 11. und 12. Februar 1985. S. 20-32



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